Der traurige Baum

Reihengeschichten erfinden mit geflüchteten Kindern

Publiziert am 21.06.2016 von Eva-Maria Maywald

Einmal in der Woche trifft Helga Gruschka sich für zwei Stunden mit sieben Kindern. Sie sind zwischen sechs und zehn Jahre alt und kommen aus der Ukraine und dem Irak. Gemeinsam hören und erzählen sie Geschichten, gestalten Bilder dazu und präsentieren diese dann selbst im Kamishibai. Eine dieser Geschichten wollen wir hier vorstellen und zeigen, wie auch Sie mit Kindern Reihengeschichten erfinden können.

Projekt mit geflüchteten Kindern

Das Projekt wird ermöglicht durch brotZeit e.V.: Dieser von der Schauspielerin Uschi Glas initiierte Verein ermöglicht durch ehrenamtliche Helfer Kindern an teilnehmenden Schulen ein ausgewogenes Frühstück und engagiert sich auch in der Nachmittagsbetreuung, bei der Hausaufgabenhilfe oder in der Freizeitgestaltung.

In diesem Rahmen entstand im Mai 2016 auch das Projekt „Erzählen mit dem Kamishibai“ für die Flüchtlingskinder an einer Ganztagsschule in München-Neuperlach.
Die teilnehmenden Kinder, die alle noch schlecht Deutsch sprechen, haben in den Stunden mit Geschichtenerzählerin Helga Gruschka die Möglichkeit, ihr Deutsch zu verbessern: Der Wortschatz wird erweitert, die Satzmelodie wird erkennbarer und grammatikalische Fehler werden durch das interaktive Erzählen achtsam korrigiert. Wenn zum Beispiel ein Kind sagt: „Die Hund bellte laut.“, fragt Helga Gruschka nach: „Was hat der Hund gemacht?“ usw.
Dabei kommt auch die Erzählfreude nicht zu kurz und inzwischen erfinden die Kinder sogar eigene Geschichten. Helga Gruschka hat dazu einen Plan entworfen, der die Geschichtenerfinder durch die Geschichte führt.

Plan zum Erfinden einer Reihengeschichte

Hauptperson?
(Tier, Fabelwesen, Märchenfigur oder Ähnliches)
Was will sie?
(ein dringender Wunsch)
Wen fragt sie vergeblich um Hilfe?
(nacheinander mehrere Tiere, Menschen, Gegenstände)
Wer hilft?
(Zauberer, Fee oder Ähnliches)
Wie?
(guten Rat geben, Lösung bereithalten)
Glückliches Ende
(Der Wunsch wird erfüllt.)
Ein Baum möchte, dass ein Kind auf ihm herumklettert. Er fragt ein Eichhörnchen und eine Eule, aber sie können ihm nicht helfen. Der Hund weiß Rat. Beim Hund auf dem Bauernhof wohnt ein Junge, den er ruft. Der Junge klettert auf dem Baum herum und alle sind zufrieden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

aus: Mein Erzähltheater Kamishibai: Erzählen und Sprechenlernen in der Krippe, Helga Gruschka, 2016, ISBN: 978-3-7698-2231-1

Zur fertigen Geschichte gestalten die Kinder in Gemeinschaftsarbeit Bilder. Und so entstand auch die „Geschichte vom traurigen Baum.“

Der traurige Baum

Es war einmal ein Baum. Mitten im Wald stand er , aber er war etwas Besonderes. In die Rinde seines braunen Stammes war ein Gesicht geschnitzt, ein Gesicht mit einem richtigen Mund, der sprechen konnte und der Baum verfügte über gewisse Zauberkräfte.

Eines Tages huschte ein Eichhörnchen vorbei und blieb stehen: „Du siehst so traurig aus, Baum!“ sagte es. „Ich bin auch traurig“; sagte der Baum, „siehst du, ich bin so schön, ich habe grüne Blätter Blätter, die pink leuchten und ich habe kräftige braune Äste. Alles wunderbar geeignet, dass ein Kind auf mir herum klettern könnte. Aber noch nie ist ein Kind zu mir gekommen. Ich wünsche es mir so sehr, dass ich ein Kind auf meinen Ästen spüren könnte.“

„Ich könnte doch auf dir herum klettern“; sagte das Eichhörnchen. Doch der Baum sagte: Das ist nicht dasselbe, ich wünsche mir dafür ein Kind!“ Dem Eichhörnchen blieb nur, weiter durch den Wald zu huschen.

„Huhu, huhu“, kam da eine Eule daher geflattert. Auch sie fragte den Baum: „Warum siehst du so traurig aus?“ Der Baum erzählte auch der Eule von seinem Wunsch.“Weißt Du nicht, wo ein Kind ist“? „Nein“, sagte die Eule, „hier im Wald habe ich keines gesehen“ Der Baum schaute noch ein wenig trauriger und die Eule flog weiter „Huhu, huhu!“
Nach einer Weile schnüffelte ein kleiner Hund den Weg entlang bis zum Baum. Auch er blieb stehen: „Na, fröhlich siehst du nicht gerade aus. Was fehlt dir, Baum?“ Der Baum erzählte von seinem großen Wunsch, dass er wolle, dass ein Kind auf ihm herum klettere. „Weißt du, wie ich ein Kind finden könnte“? „Klar, wuff,wuff!“ sagte der Hund, „weiß ich das. Bei mir zu Hause auf dem Bauernhof, wo ich wohne, gibt es einen Jungen. Er heißt Louis, ihn werde ich fragen.“ „Ja, tu das. Ich gebe dir die Kraft, mit ihm zu sprechen.“

Der Hund trabte nach Hause und suchte Louis. „Wuff, wuff!“ bellte er ihn an, „komm mit mir, ich weiß einen schönen Kletterbaum für dich!“ Louis war zuerst ein wenig erstaunt, dass sein Hund sprechen konnte, aber er ging bereitwillig mit. „Oh! Du hast jemanden gefunden!“ “, jetzt lachte der Baum, „wie heißt du? Magst du auf meinen Ästen herum klettern“? fragte er das Kind. „Ich bin der Louis und klettern mag ich gerne!“ Sofort kletterte der Louis auf den Baum. Und als er sich dann auf einen Ast setzte um auszuruhen, schaukelte der Baum ihn ganz sanft und lächelnd genoss er das schöne Gefühl, endlich ein Kind zu spüren. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.


Helga Gruschka, ausgebildete Märchen- und Geschichtenerzählerin. In Kitas, Schulen, Bibliotheken und Krankenhäusern veranstaltet sie Geschichtenerfinder-Werkstätten und entwickelt dort zusammen mit den Kindern neue Geschichten. Sie gibt Fortbildungen für Erzieherinnen und Lehrkräfte zum Erzählenlernen. Ihr Kamishibai hat sie stets im Gepäck.

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