Selbstwahrnehmung und Selbstschutz fördern
Wie können Kinder stark gemacht werden gegen Grenzverletzungen? Eine gute Selbstwahrnehmung ist eine wichtige Voraussetzung dafür. So sind sie eher in der Lage, „Nein“ sagen, sich zur Wehr setzen bzw. Hilfe zu holen. Sexualpädagoge Michael Kröger über den Umgang mit Grenzverletzungen und Übergriffen durch Kinder und Erwachsene.
Kinder haben nicht die Verantwortung, sich selbst zu schützen. Die Verantwortung dafür bleibt immer bei den erwachsenen Bezugspersonen. Doch ist es wichtig, dass Kinder frühzeitig lernen, auf ihr körperliches oder seelisches Unbehagen zu vertrauen, und dass sie eine gute Selbstwahrnehmung entwickeln. So sind sie eher in der Lage, „Nein“ sagen, sich zur Wehr setzen bzw. Hilfe zu holen, wenn sie sich in bestimmten Situationen nicht mehr wohl fühlen, und sie spüren, dass ihre Grenzen verletzt werden.
Das können ganz alltägliche Situationen im Umgang mit Erwachsenen, aber auch mit Kindern sein:
Da sich Kinder nicht ausreichend selbst schützen können, ist es neben der guten Selbstwahrnehmung wichtig, dass sie sich trauen, ihre Gefühle zu äußern, und auch, dass sie möglichst genau beschreiben können, was ihnen widerfährt. Um dies zu können, ist zunächst einmal eine geeignete Sprache nötig. Wenn es um das Thema Sexualität geht, greifen die meisten Menschen auf der ganzen Welt im familiären Kontext und Partnerschaft auf Umgangssprache zurück. Diese erscheint oft als vulgär oder verniedlichend, und ist nicht immer eindeutig, hat aber dem „offiziellen“ Vokabular voraus, dass sie nicht so technisch und kalt erscheint. Auch Kinder haben meist umgangssprachliche Bezeichnungen gelernt. Doch sollten sie daneben unbedingt auch das „offizielle“ Vokabular beherrschen, und ihnen Wörter wie „Vagina“ (oder zumindest „Scheide“) und „Penis“ geläufig sein. Denn es kommt darauf an, dass sie sich auch in einem Umfeld außerhalb der vertrauten Familie auf eine Art mitteilen können, die sicherstellt, dass sie verstanden werden. Das Plädoyer in Richtung erwachsene Bezugspersonen geht also dahin, Kinder beim Thema Sexualität „zweisprachig“ aufwachsen zu lassen. Eine sexualitätsfreundliche, offene Umgebung, die Kindern ermöglicht, zu intimen Dingen eine Sprache zu entwickeln, dient letztlich auch dem Schutz vor sexuellen Übergriffen.
Doch geschieht übergriffiges Verhalten nicht nur durch Erwachsene gegenüber Kindern, auch in der Interaktion zwischen den Kindern sind kleine und größere Grenzverletzungen an der Tagesordnung. Miteinander zu spielen, ist für Kinder ist ein elementar wichtiges Lernfeld, wenn es darum geht, sich als soziale Wesen zu begreifen. Wenn Kinder, bedingt durch viel körperliche Nähe „im Spiel“, untereinander Grenzen verletzen, so tun sie das in der Regel im Überschwang, und es ist kein geplantes, sondern ungeplantes Vorgehen.
Die Kinder lernen hierbei auch durch die Reaktionen ihrer Umwelt. Kann sich ein Mädchen oder Junge aus eigener Kraft nicht ausreichend gegen eine Grenzverletzung zur Wehr setzen, versucht es nun im Idealfall, die Hilfe zu bekommen, die ihm zusteht.
>>> Bekommt das Kind diese Hilfe auch, so lernt es, dass das im Moment der Grenzverletzung erlebte schlechte Gefühl nicht trog, dass die Bezugspersonen es ernst nehmen, und dass es sich lohnt, sich zur Wehr zu setzen. Es wird in seiner Selbstwahrnehmung und Selbstwirksamkeit bestärkt, es wird besser geschützt und hat eher die Chance, sich gegen weitere Grenzverletzungen zu wehren.
>>> Bekommt das Kind die Hilfe nicht, so lernt es das Gegenteil – was fatal ist: es erlebt sich als hilflos, es teilt sich vielleicht nicht mehr mit, es macht das Erlebte mit sich selbst aus und lernt vielleicht sogar, das eigene schlechte Gefühl zu negieren.
Auch das grenzverletzende Kind lernt aus der Art, wie auf die Grenzverletzung reagiert wird. Erfolgt keine Reaktion, ist der Lerngewinn womöglich der, dass sich die Grenzverletzung in der Ausübung gut angefühlt hat und ohne Konsequenzen bleibt. Das grenzverletzende Kind läuft nun Gefahr, sein Tun zu wiederholen, und damit übergriffig zu werden. Denn Übergriffe unterscheiden sich von Grenzverletzungen dadurch, dass sie eben sehr wohl geplant und strategisch vorbereitet sind, und in voller Absicht passieren. Übergriffige Kinder haben ihr Verhalten also auch gelernt. Trotzdem ist es nicht hilfreich, diese Kinder als Täter*innen zu stigmatisieren. Denn genauso, wie sie ihr Verhalten gelernt haben, besteht die Möglichkeit, dass sie es auch wieder verlernen.
Wichtig für Fachkräfte und Eltern ist also, immer ein „offenes Ohr“ zu haben und die Gefühlsäußerung des betroffenen Kindes ernst zu nehmen, um im Bedarfsfall intervenieren zu können. Darüber hinaus sollen sie auch in der Lage sein, selbstreflexiv zu erkennen, wenn sie ihrerseits Grenzen überschreiten, denn auch dies geschieht hin und wieder im alltäglichen Umgang. Wenn erwachsene Bezugspersonen dann noch in der Lage sind, sich für ihr Fehlverhalten gegenüber dem Kind entschuldigen zu können, ist das ganz wunderbar und hat wiederum einen Lerneffekt: es ist ein Zeichen für das Mädchen bzw. den Jungen, dass Erwachsene nicht unfehlbar sind, und dass man sich auch gegen sie wehren darf. Gekoppelt mit der grundsätzlich zu vermittelnden Haltung, dass Kinder keinen unbedingten Gehorsam leisten und nicht alles tun müssen, was die „Großen“ sagen, ist das umso wertvoller.
Die Kinder stellen sich in zwei Reihen gegenüber auf. Zwischen beiden Reihen sollte ein Abstand von etwa fünf Metern liegen. Jedes Mädchen und jeder Junge hat nun ein Gegenüber.
Die Kinder der einen Reihe gehen nun auf ein Kommando langsam auf ihr jeweiliges Gegenüber zu und halten dabei Blickkontakt.
Die auf der anderen Seite in der Reihe wartenden Kinder achten darauf, ab wann diese Situation für sie unangenehm wird (voraussichtlich dann, wenn der Abstand von einer Armlänge unterschritten wird), heben dann ihre Hand und rufen „ Stopp“.
Die Rollen werden nun vertauscht, und die vormals wartenden Kinder gehen nun ihrerseits auf ihre Gegenüber zu.
In einer kurzen Auswertung versuchen die Kinder, ihre Gefühle während der Übung zu beschreiben.
Die Kinder werden die Auflösung der Situation durch das Stopp-Zeichen überwiegend auch dann als erleichternd empfunden haben, als sie den aktiven Part gespielt und auf das Mädchen bzw. den Jungen gegenüber zugegangen sind. Dies zeigt, dass es auch für ein sich im Begriff der Grenzüberschreitung befindlichen Kindes entlastend sein kann, wenn ihm in diesem Moment eine Grenze aufgezeigt wird. Dieses Muster wird erwachsenen Bezugspersonen im Umgang mit Kindern oft begegnen: Kinder empfinden Grenzsetzungen nicht unbedingt als unangenehm, manchmal verlangen sie quasi danach – denn sie geben ihnen Orientierung.
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