Nähe zum Original und neue Formen im Erzählalltag
Wer Kamishibai außerhalb von Japan kennenlernt, wird erleben, wie sich Elemente der ursprünglichen Erzählweise mit anders geprägten Elementen des Erzählens verbinden und zu neuen Formen entwickeln. Was dabei entsteht, unterscheidet sich von der traditionelle Spielweise – zugleich aber hätten sich solche Varianten ohne die Einflüsse der tradierten Form nicht herausbilden können. Es geschieht ein Entdecken, Bewahren, Verwandeln und Neuwerden mit unterschiedlichen Akzenten.
Seifenblasen tanzen im Wind und verbinden sich mit der Geschichte von den drei Schmetterlingen. Die Kinder liegen auf dem Bauch im hohen Gras. Es ist Sommer. Ab und zu kommt ein vierter und fünfter Schmetterling vorbei …
Erzählen mit Kamishibai – das ist immer wieder anders. Manchmal erzählt die Umgebung mit – und die Kinder sowieso. Denn Kamishibai – das geschieht in lebendigen Wechselbeziehungen zwischen den Kindern, den Bildern und einem Menschen, der mit einer Geschichte das Entdecken, das Staunen, das Wundern, vielleicht ein Gespräch in Gang bringt. Dabei wird die Gestaltung der Erzählsituation mitunter aus dem Augenblick geboren. Es kann passieren, dass eine Geschichte anders endet als ursprünglich geplant. So viel Freiheit – gibt es dabei überhaupt noch ein Richtig oder Falsch?
Orientierung für diese Frage finde ich persönlich in den Schriften des polnischen Pädagogen und Kinderarztes Janusz Korczak. Nein, von Kamishibai ist in seiner 16-bändigen Gesamtausgabe mit Tagebuchaufzeichnungen, Gedanken, Erfahrungen und Geschichten aus dem Leben mit Kindern nicht direkt die Rede. Wohl aber von der Experimentierfreude beim Erzählen mit ganz verschiedenen Mitteln, Methoden und Medien, vom Ausprobieren und Variieren, vom Gelingen und vom Scheitern, vom Entdecken und vom Nicht-Wissen: "Sei nicht böse, wenn ich anders erzähle, als du es möchtest. Sei nicht böse, wenn ich es anders sage, als du es weißt. Sei nicht böse, wenn ich sage: Ich weiß nicht!“, heißt es an einer Stelle.
Anders erzählen – das ist eine Erfahrung, die mich seit 15 Jahren in Verbindung mit dem Kamishibai begleitet. Bevor ich begonnen habe, mich mit dem mobilen Erzähltheater vertraut zu machen, habe ich bei zahlreichen Reisen und Begegnungen in Europa und in den USA das Staunen gelernt über die Vielfalt der verschiedenen Spielarten des Erzählens in verschiedenen Ländern. Ich habe erlebt, wie Geschichten durch die Welt wandern, in wechselnden Kleidern daher kommen, immer wieder anders klingen, sich verändern, weiterentwickeln, ein Eigenleben proben, andere Menschen zu neuen Ideen anregen. Das macht für mich die Lebendigkeit des Erzählens in der Welt aus. Und das bleibt für mich ein interkultureller Lernprozess, der andauert.
Auf einer solchen Entdeckungsreise ist mir auch das Kamishibai begegnet: im Austausch mit Niederländern und nicht in Japan, wo das Erzählen mit Kamishibai ursprünglich herkommt. Kennengelernt habe ich es also bereits als eine europäische Variante, die sich inspiriert durch die Kunst des fantasievollen freien Spiels mit Figuren, Bildern und Worten entwickelt hat. Geschichtenerzähler wie Marco Holmer weckten in mir die Lust am Ausprobieren. Das von Jouke Lamers dafür geschaffene Kamishibai-Rahmenmodell mit der Öffnung nach oben ist einfach zu bauen und vielfältig einsetzbar.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits einiges über die traditionelle japanische Form des Erzählens mit Kamishibai gehört und gelesen. Ich habe Respekt vor dieser ursprünglichen Form und den damit verbundenen Regeln, Anliegen und Erfahrungen. Und ich empfinde es als eine Bereicherung, dass diese Tradition hier und da auch in Europa in großer Nähe zum Original weiterhin gelebt und vermittelt wird – durch Menschen, die mit der japanischen Kultur vertraut sind.
Gleichzeitig ist in Europa und anderswo ein Prozess der begründeten und spielerischen Veränderung in Bewegung gekommen: Wer Kamishibai außerhalb von Japan kennenlernt, wird erleben, wie sich Elemente der ursprünglichen Erzählweise mit anders geprägten Elementen des Erzählens verbinden und zu neuen Formen entwickeln. Was dabei entsteht, unterscheidet sich von der traditionelle Spielweise – zugleich aber hätten sich solche Varianten ohne die Einflüsse der tradierten Form nicht herausbilden können. Es geschieht ein Entdecken, Bewahren, Verwandeln und Neuwerden mit unterschiedlichen Akzenten.
Zu diesem Weg gehört das Experimentieren, um herauszufinden, was passt und was nicht – und um Momente zu erleben, die in der Begegnung mit den Kindern für alle Beteiligten ein großes Glück bedeuten.
Viele Fragen und Entscheidungen ergeben sich aus diesen Erfahrungen: Ob eine Rahmenform bevorzugt wird, die durch eine seitliche Öffnung eine eher filmische Dramaturgie mit einem präzise gestalteten Szenenübergang erlaubt oder ob es als stimmiger empfunden wird, den Bildwechsel mit einer bogenförmigen Bewegung zu begleiten, was für eine Öffnung an der Oberseite spricht – das sind bedeutsame Überlegungen. Man sollte sich die Unterschiede bewusst machen und gern verschiedene Möglichkeiten ausprobieren. Die Freiheit, es so oder so zu machen, ist nicht mit Beliebigkeit zu verwechseln. Viele Dinge spielen in die Entscheidung mit hinein: die Art der Geschichte, der Illustrationsstil, die Umgebung, das eigene Temperament und am allerwichtigsten: das Erleben der Kinder in dieser Situation.
Janusz Korczak schrieb über seine eigenen Erzählerfahrungen: „Die erste Quelle der Missverständnisse: Man sagt, wie es sein soll, nimmt aber nicht wahr, wie es ist. Die zweite Quelle der Missverständnisse: Man sagt, was die Kinder meinen oder meinen sollen, aber armselig wenig davon, was das Kind aufnimmt, verdaut […], was es wegschiebt, von sich weist. […] Das Märchen und das Kind – also verschiedene Märchen und verschiedene Kinder – und verschiedene Methoden des Erzählens: die Form, die Technik, die Stimme, die Gestik, die Mimik, das Tempo, die Akzente – was ist wichtig?“
Korczak führt an vielen Beispielen aus, wie ihm die Kinder in diesem Sinne zu Lehrmeistern geworden sind, wie sie ihn dazu gebracht haben, seine Erzählmethode immer wieder zu hinterfragen, beim nächsten Mal vielleicht ganz anders zu erzählen. Das ist keine Gleichgültigkeit gegenüber der Bedeutung des Erzählens in seinen verschiedenen Spielarten. Das ist liebevolle Aufmerksamkeit für die Kinder im Erzählgeschehen. Und das ist – so denke ich – das wichtigste, was man beim Erzählen mit Kamishibai lernen kann – überall auf der Welt!
Literatur: Brandt, Susanne: Gedankenflüge ohne Illusion. Janusz Korczak als Impulsgeber für die dialogische Begegnung mit Kindern. Wetzlar, 2010
Woher kommt die Methode des Erzählens mit dem exotisch klingenden Namen "Kamishibai"? Und wie kam das Kamishibai in Europa an? Dieses Video aus Japan versetzt uns ins Ursprungsland des Kamishibai-Erzählens.
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