Impulse für einen anderen Blick auf Religion
Die Darstellung unterschiedlicher Religionen in Kinderbüchern oder Unterrichtsmaterial zu Weltreligionen soll authentische Einblicke in verschiedene Kulturen bieten, Vorurteile abbauen und Neugier wecken. Paradoxerweise bewirken aber viele Illustrationen, die Menschen sofort erkennbar als Buddhist, Hindu, Jüdin oder Muslima darstellen, ungewollt neue Stereotypen. Wie Fachkräfte in Grundschule und Kindergarten Kindern religiöse Vielfalt besser erschließen, zeigt dieser Hintergrundbeitrag.
Wirft man einen Blick in Kindermedien, die religiöse Vielfalt thematisieren, so fällt vor allem eines auf: Die Art und Weise, wie Religionen charakterisiert werden, ist in vielen Medien und über lange Zeit hinweg sehr ähnlich. Kindermedien stellen religiöse Traditionen häufig anhand von Figuren vor, die repräsentativ für eine Religion stehen. Besonders die Illustrationen tragen dazu bei, die Wahrnehmung, wie religiöse Menschen aussehen, zu beeinflussen.
So ist eine jüdische Figur in Kindermedien in der Regel ein Junge, der an Kipa und Tallit, einem weiß-blauen Gebetsschal, zu erkennen ist. Ein muslimisches Mädchen trägt stets ein Kopftuch, während ein muslimischer Junge mit Kopfbedeckung und Koran oder Gebetsteppich und Thawb, einem langen weißen Gewand, als Muslim gekennzeichnet ist. Buddhistische Kinder werden als Mönche dargestellt, mit rasierten Haaren und orangefarbener Mönchstracht, und hinduistische Figuren sind häufig Mädchen, gekleidet mit pinken Saris und Bindi, einem roten Punkt auf der Stirn. Auch christliche Figuren fehlen in dieser Reihung nicht, sie sind in der Regel blonde Mädchen, die einen Kreuzanhänger an einer Kette um den Hals tragen.
Kindermedien machen durch diese Darstellung unmittelbar sichtbar, dass sie religiöse Vielfalt thematisieren. Doch wie sehen ein christlicher Junge oder ein jüdisches Mädchen aus? Stellt man sich diese Frage, so muss die Antwort wohl lauten: Ich weiß es nicht, wahrscheinlich normal. Diese Umkehrung der Rollen zeigt, dass die Figuren, die religiöse Vielfalt darstellen, nicht als normale, sondern als besondere Kinder charakterisiert werden. Kindermedien präsentieren sie als Mitglieder einer Gemeinschaft, die Dinge tun, die andere nicht tun. Doch was bedeutet das für unsere Vorstellungen von Vielfalt?
Eigentlich ist es paradox, dass religiöse Vielfalt ausgerechnet an Figuren gezeigt wird, die sich in verschiedenen Darstellungen so sehr ähneln. Aus der Perspektive vieler Kindermedien ist religiöse Vielfalt das Nebeneinander oder Aufeinandertreffen von Figuren, die das Judentum, Christentum, den Islam, den Hinduismus und Buddhismus repräsentieren.
Diese Darstellungsweise folgt der Auffassung, es gebe diese Religionen als feste Gebilde und Menschen ließen sich ihnen zuordnen wie Besteck einer Schublade. Doch wenn nur fünf Weltreligionen als Vielfalt dargestellt werden, was ist dann mit all denjenigen, die nicht in diese Schublade passen? Ein Kind mit Elternteilen, die sich als unterschiedlichen religiösen Traditionen zugehörig verstehen; eine Person, die nach dem Sonntagsgottesdienst eine Yogakarte zieht und Übungen macht. Was ist mit Menschen, die sich an Halloween verkleiden und wenig später Chanukka feiern?
Religiöse Vielfalt ist nicht nur eine Perspektive auf ein gesellschaftliches Phänomen, das die Gleichzeitigkeit und Interaktion verschiedener religiöser Traditionen beschreibt, sondern kann sich auch in einer Person verschränken. Der Idee, Vielfalt anhand von Weltreligionen zu bestimmen, liegt eine Auffassung von Religion zugrunde, die die komplexen Facetten der Welt bei weitem unterschätzt.
Die Einteilung von Religionen in Weltreligionen – wie viele es davon gibt, ist unklar –, folgt einer Idee, die in Europa im 19. Jahrhundert entwickelt wurde. Mit dem Verständnis, „das Christentum“ sei die Urform von Religion und als Prototyp geeignet, um andere Religionen mit ihm zu vergleichen, entwickelte sich ein Modell, das die Religionen klassifiziert, die als wichtig und einflussreich gelten. Die Vergleichskategorien, um Religionen als solche zu bezeichnen, sind an Praktiken geknüpft, die als christlich verstanden werden. Dazu gehören Glaube als zentrale Kategorie von Religion, Handlungen, wie etwa Rituale und Feste, Kleidungsordnungen und der Umgang mit dem Tod.
Problematisch ist die Aufteilung von Weltreligionen deshalb, weil sie Religion auf einen Kern reduziert und als starre Gebilde versteht. Sie erweckt den Eindruck, als gebe es richtige und falsche Formen der Ausübung von Religion. Das sieht man beispielsweise an verwunderten Gesichtern, wenn Musliminnen und Muslime Alkohol trinken, oder an der Erwartung, dass alle buddhistischen Menschen friedlich seien. Die Idee der Weltreligionen trübt unseren Blick auf Vielfalt, sie schafft Ordnung in einem Feld, in dem es keine feste Ordnung gibt.
Aus einer wissenschaftlichen Perspektive kann nicht eindeutig bestimmt werden, was Religion ist. Im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte haben sich viele Forscherinnen und Forscher an Definitionen versucht, die alle plausibel sind, aber alle auch kritisch diskutiert werden. Viele Definitionen betonen eine orientierungsstiftende Funktion, andere suchen nach dem "Wesen" von Religion, das heißt nach einem Kern, der alle religiösen Phänomene eint.
Für den Umgang mit religiöser Vielfalt könnte es interessant sein zu fragen, wie Menschen Erfahrungen einordnen und eine sinnvolle Deutung für verschiedene Erlebnisse in ihrem Leben finden. Die Frage, wie man mit dem Tod umgeht, betrifft uns alle. Ob es Schicksal, Zufall oder selbst beeinflussbar ist, dass uns Glück oder Unglück widerfährt, beschäftigt viele Menschen. Und auch zur Frage, wie man zusammenleben kann, was Rechte und Pflichten sind, muss sich jeder Mensch jeden Tag aufs Neue positionieren.
Ein solcher Blick schafft eine Möglichkeit, die strikte Trennung in religiöse und nicht-religiöse Menschen zu vermeiden, da jede und jeder Erfahrungen macht, die gedeutet werden. Und im Hinblick auf Religion ist es nicht nur interessant, was diejenigen tun, die als religiös bezeichnet werden, sondern wie alle Menschen zusammenleben. Diese Perspektive nähert sich also viel eher der Vielfalt von Menschen und betont unterschiedliche Weltbilder.
Kindermedien, die religiöse Vielfalt anhand von Weltreligionen darstellen, bringen Dinge zusammen, die nicht gleichzeitig zusammen sind. Sie konstruieren eine Idee von Vielfalt, die sich in der Lebensrealität vieler Kinder nie widerspiegelt. Allzu selten kommen ein Jude, eine Christin, ein Muslim, ein Buddhist und eine Hindu an einen Tisch und tauschen sich aus.
Das Erfahren von Vielfalt beginnt vor der eigenen Haustür, es spielt sich in der Lebenswelt von Kindern ab. Vielfalt sehen wir nicht nur an der Architektur einer Stadt, in der unterschiedliche Zeiten und Kulturen an einem Ort vereint werden. Vielfalt erfährt man in Gesprächen über Alltagserfahrungen und erkennt sie an unterschiedlich gekleideten Menschen im Bus.
Für Kindermedien ergibt sich daraus eine Chance, nämlich genau hinzusehen, wie wir vielfältige Weltdeutungen in unserer Umwelt erleben können. Ob die Darstellung von Vielfalt mit einer Positionierung des Eigenen, Vertrauten verbunden wird oder auf einer beschreibenden Perspektive beruht, ist dabei offen. Doch eines ist klar: Jede Betonung des Eigenen, des „Das machen wir so“, schließt auch mit ein, dass jemand davon ab- und ausgegrenzt wird. Dieser Mechanismus sollte bewusst sein, wenn der Umgang mit Vielfalt vor allem über identitätsstiftende Erklärungen stattfindet. Denn allzu häufig geht es in Kindermedien nicht nur um religiöse Vielfalt, sondern um eine Idee davon, wer „wir“ sind.
Seit Mitte der 1990er Jahre thematisieren deutschsprachige Kindermedien verstärkt religiöse Vielfalt. Die Medien sind von der Vorstellung geprägt, dass Kindern der Umgang mit dem Anderen nahegebracht werden muss. Dazu wollen viele Kindermedien Wissen über Religion vermitteln, um zu verstehen, was andere tun. Viele Medien stellen deshalb religiöse Feste und Rituale, Schriften und heilige Orte vor, die für bestimmte religiöse Gemeinschaften wichtig seien.
Obwohl Vielfalt doch eigentlich auf dem Zusammentreffen von Menschen beruht, stellen Kindermedien vermeintlich voneinander abgegrenzte Gruppen nebeneinander. Diese Vorgehensweise hat zwei Effekte: Zum einen schließt diese Darstellung diejenigen aus, die nicht zu einer der abgegrenzten Gemeinschaften gehören. Die Welt ist viel zu komplex, um sie in fünf Weltreligionen einzuteilen. Zum anderen erweckt diese Darstellungsweise den Eindruck, als würden wir Religion und religiöse Vielfalt verstehen, wenn wir nur möglichst viel über andere wüssten.
Sich dieses Wissen über alle, selbst nur über die "wichtigen" Gemeinschaften anzueignen, ist unmöglich. So entsteht bei vielen das Gefühl, sie wüssten nicht genug über „die Muslime“ oder „den Hinduismus“. Und in der Regel trügt dieses Gefühl nicht, denn sobald wir denken, etwas zu wissen, wird dieser Eindruck durchbrochen, durch Menschen, die Dinge tun, die nicht in unsere Vorstellungen von dieser Religion passen. Aus dieser Unsicherheit heraus entstehen Übersichten, die die wichtigsten Fakten über Religionen zusammentragen. Doch diese Listen bieten nicht nur grobe, ungenaue Überblicke, sie haben gleichzeitig den Effekt, Stereotype und Vorurteile zu transportieren.
Es muss in Kindermedien im Umgang mit religiöser Vielfalt nicht in erster Linie um Wissen gehen. Es kann ausreichen zu beschreiben, wie Menschen miteinander leben, um ein zum Nachdenken anregendes Buch oder einen spannenden Film zu gestalten. Religiöser Vielfalt können wir auf vielfältige Weise begegnen, sei es durch Beobachten der Umwelt oder im Gespräch mit Menschen. Lässt man alle vorgefertigten Kategorien im Umgang mit anderen Menschen weg, vergisst man für einen kurzen Moment die Klassifizierung „Das ist eine Jüdin und er ist ein Buddhist“, so hört und schaut man genauer hin. Wir erfahren etwas über die Art und Weise, wie Menschen mit ihrem Leben umgehen, wie sie Erfahrungen verarbeiten und das Erlebte deuten.
Der visuellen Stereotypisierung von Menschen à la "Christinnen sind blond" und "Juden tragen alle eine Kipa" ist eine enge Vorstellung von Religion vorgelagert. Diese Stereotypen können vermieden werden, indem wir die Idee, die religiöse Vielfalt könne in Weltreligionen gefasst werden, aufgeben und stattdessen den Blick auf echte Vielfalt von Weltdeutungen lenken.
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