Von fliegenden Löwen und sprechenden Pizzen
"Ich war der festen Überzeugung, dass es wichtig sei, meinen kleinen und großen Zuhörern die Freiheit zu lassen, ihre eigenen inneren Bilder entwickeln zu können. Heute verwende ich beim Erzählen für Kinder im Vorschul- und Grundschulalter immer öfter mein Kamishibai Erzähltheater", sagt Erzählerin Barbara Greiner-Burkert. Warum sie ihre Meinung geändert hat, erzählt sie hier.
König Ludwig wohnt in einem umgedrehten Lampenschirm. Dort hat er alles, was er zum Leben braucht.
Der Lampenschirm kann wie ein Boot auf dem Fluss schwimmen und er hat sogar ein Schiebedach, damit sich König Ludwig bei schönem Wetter sonnen kann.
Natürlich ist hier nicht die Rede vom „Märchenkönig“ Ludwig II. von Bayern. Unser König Ludwig ist ein Giraffenjunge und wurde von den 5-8-jährigen Kindern in einer meiner Erzählwerkstätten erfunden.
Obwohl es König Ludwig in seinem Lampenschirm recht gut gefällt, hat er doch einen großen Wunsch: Er würde so gerne einmal zu den Sternen fliegen. Deshalb wünscht er sich ein Flugzeug. Es muss aber unbedingt ein Glasdach haben, weil er ja sonst die Sterne nicht sehen kann.
Bei meinen Workshops und Fortbildungen für pädagogische Fachkräfte taucht immer wieder die Frage auf, ob das Kamishibai durch die vorgegebenen Bilder nicht die eigene Vorstellungskraft von Kindern beeinträchtigt.
Als ich mit dem Geschichten erzählen angefangen habe, habe ich nie mit Bildern erzählt. Ich war der festen Überzeugung, dass es wichtig sei, meinen kleinen und großen Zuhörern die Freiheit zu lassen, ihre eigenen inneren Bilder entwickeln zu können. Heute verwende ich beim Erzählen für Kinder im Vorschul- und Grundschulalter immer öfter mein Kamishibai Erzähltheater. Dazwischen liegen 20 Jahre Erzählerfahrung, unzählige Erzählstunden mit Kindern und die Entwicklung und Durchführung zahlreicher erzählpädagogischer Projekte.
Es ist wunderbar, wenn Kinder dazu in der Lage sind, einer ganzen Geschichte von Anfang bis Ende konzentriert zu folgen und ihr „Kino im Kopf“ so lebendig und farbenfroh ist, dass sie gebannt zuhören und sie ganz in die Welt eines Märchens oder einer Geschichte eintauchen.
Solche Kinder gibt es. Auch heute noch. Doch meiner Erfahrung nach nimmt die Anzahl der Kinder, denen es sehr schwer fällt, Zugang zu ihrer eigenen inneren Vorstellungskraft zu finden, immer mehr zu. Insbesondere in den letzten 10 Jahren habe ich diesbezüglich starke Veränderungen beobachtet.
Dass die Hauptursache dafür die überall gegenwärtige Dauerversorgung mit Bildern von außen ist, liegt für mich auf der Hand. Schon bei vielen Zweitklässlern gehört die unkontrollierte Nutzung von Tablet und Smartphone zum Alltag. Dazu kommt, dass in den Kitas und Grundschulen der Anteil von Kindern, die zu Hause kein Deutsch sprechen, kontinuierlich zugenommen hat. Es gibt Stadtteile in München in deren Grundschulen ein Migrationsanteil von 80-90% nichts Ungewöhnliches ist.
Viele dieser Kinder sind schlichtweg überfordert, wenn sie einer Geschichte folgen sollen, ohne dass sie Unterstützung in Form von Bildern bekommen. Auch das Erzählen mit Gegenständen, z.B. in Form einer Legegeschichte, hilft hier.
Das Kamishibai ist für mich inzwischen ein unverzichtbarer Begleiter geworden. Es fesselt die Aufmerksamkeit der Kinder und die Bilder bieten immer wieder neue Erzähl-und Sprechanlässe, wenn ich beim dialogischen Erzählen die Kinder in die Geschichte mit einbinde. Ihre eigenen, inneren Bilder bleiben dabei keineswegs auf der Strecke. Schließlich wird in den Bildern nicht jede Einzelheit dargestellt und was in der Geschichte „zwischen den Bildern“ geschieht, dürfen wir uns immer noch selbst vorstellen. Spätestens dann, wenn im Anschluss an die erzählte Geschichte die Kinder selbst aktiv werden und ihre eigenen Geschichten mit mir entwickeln, diese dann malen und sie mit dem Kamishibai nacherzählen, ist ihre eigene Fantasie gefragt. Das Erlebnis, eine Geschichte mit dem Kamishibai erzählt zu bekommen, hilft ihnen dabei, wieder Zugang zu einer magischen Fantasiewelt zu finden, die nicht überlagert ist von Pokémon, fortnite & Co.
König Ludwigs Wunsch ging übrigens in Erfüllung. Aber erst, nachdem er eine sprechende Riesenpizza und ein Schweinemädchen getroffen hat. Mit den beiden hat er so einiges erlebt, bis ihm der Löwe Oskar ein Flugzeug mit Glasdach schenkt, mit dem er aus Afrika gekommen ist. Er braucht es nicht mehr, weil er für immer bei uns bleiben möchte. König Ludwig und Oskar werden Freunde und fliegen zusammen zum Mond und den Sternen. Die Pizza und das Schweinchen dürfen auch mit – ist doch klar. Mit ein bisschen Fantasie ist alles ganz einfach, oder?
Zur Autorin: Nach vielen Jahren Berufstätigkeit als Pädagogin ist Barbara Greiner-Burkert inzwischen selbständig und macht das, was ihr am meisten Spaß macht: Geschichten erzählen und (fast) alles, was damit zusammenhängt. In ihren Kursen gibt sie ihr Wissen und ihre Erfahrung aus 15 Jahren Erzähl- und Dozententätigkeit gerne weiter.
Mit dem Geschichtenbaukasten erfinden Kinder und Erwachsene Geschichten und erzählen sie, ohne den roten Faden dabei zu verlieren. Entwickelt hat ihn die Erzählerin Helga Gruschka. Die Geschichtenbaumeister wählen sich aus den Handlungskarten Anlässe, Orte und Personen aus und hangeln sich damit entlang der Fragefelder des Geschichtenbauplans.
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