Das Grimm-Märchen "Brüderchen und Schwesterchen"
Auch wenn es unter Geschwisterkindern beizeiten Streit und handgreifliche Auseinandersetzungen gibt oder wenn sich manche Kinder in ständiger Konkurrenz zum Bruder oder zur Schwester sehen oder gar das Gefühl haben, der oder die andere würde bevorzugt – die Zeit des gemeinsamen Aufwachsens prägt für ein ganzes Leben.
Wenn es um Bindungen und Beziehungen in der Familie geht, blickt man bei Kindern vor allem auf die Mutter-/Vater-Kind-Bindung und bei Erwachsenen auf die Bindung von Lebens- und Liebespartnern. Dabei gibt es eine Bindung, die uns viel länger durchs Leben trägt als andere enge Beziehungen: die Geschwisterbindung. Die Elternbindung hört irgendwann auf, Partner lernen wir meist viel später als unsere Geschwister kennen, sie kommen – und nicht wenige gehen auch wieder. Wer also das Glück hat, Geschwister zu haben, sollte sich dies immer wieder einmal bewusst machen. Auch wenn es unter Geschwisterkindern beizeiten Streit und handgreifliche Auseinandersetzungen gibt oder wenn sich manche Kinder in ständiger Konkurrenz zum Bruder oder zur Schwester sehen oder gar das Gefühl haben, der oder die andere würde bevorzugt – die Zeit des gemeinsamen Aufwachsens prägt für ein ganzes Leben. Und im besten Fall birgt sie einen Schatz an Vertrautheit und Nestwärme, der ein Leben lang hält.
Im Kindergarten und in der Schule ist es für die erwachsenen Begleiter oft faszinierend, wie ähnlich und wie unterschiedlich Geschwister zur selben Zeit sein können. Im Kindergarten war und ist es verbreitet, Geschwister lieber zu trennen als in einer Gruppe zu betreuen: Vor allem wenn die Sorge bestand, dass sich die Geschwister gegenseitig in ihrer Entwicklung hemmen. Meist aber tun sie das nicht – sie haben ihre unterschiedlichen Freunde und Beschäftigungen und das Plus, ein Stück familiäre Vertrautheit in der Einrichtung immer mit dabei zu haben. Vor allem in der Eingewöhnungszeit ist es für jüngere Geschwister ein Vorteil, dass der ältere Bruder oder die ältere Schwester alles zeigen kann und den Übergang begleitet. Und für die Älteren ist es eine positive Erfahrung und macht stolz, Verantwortung und Fürsorge einzuüben. Auch wenn es pädagogische Vorbehalte gibt oder noch viele weitere Aspekte zu beachten sind bei der Aufteilung von neuen Kindern auf die Gruppen, ist es für die meisten Geschwister schöner, wenn sie mit Bruder oder Schwester in eine Gruppe kommen. Und in der Schule ist es nicht nur für die Eltern einfacher, wenn sich beide Kinder auf derselben Schule befinden. Auch dort profitiert die Kinder gegenseitig von ihren Erfahrungen.
In vielen Märchen sind Geschwister die Hauptdarsteller und oft müssen sie sich gemeinsam einer Aufgabe stellen und in der Not zusammenhalten, z.B. Hänsel und Gretel, die sieben Raben, Schneeweißchen und Rosenrot. Ein Märchen, das das Thema Geschwisterliebe schon im Titel trägt, ist " Brüderchen und Schwesterchen". Dieses Märchen aus der Sammlung der Brüder Grimm singt ein Lob auf die Geschwisterliebe: Brüderchen und Schwesterchen fliehen vor ihrer bösen Stiefmutter in den Wald. Als Brüderchen aus einem verzauberten Brunnen trinkt, verwandelt er sich in ein Reh. Aber Schwesterchen gibt das Reh-Brüderchen nicht auf: "Liebes Rehchen, ich will dich ja nimmermehr verlassen!" Sie findet eine Unterkunft, Nahrung und schafft einen Schutzraum für sich und das Brüderchen. Nach einiger Zeit entdeckt ein junger König die Geschwister, er verliebt sich in Schwesterchen und will sie in sein Schloss holen. Und Schwesterchen besteht darauf: "Aber das Rehchen muss auch mit, das verlass ich nicht." Als die junge Königin Schwesterchen ein Kind bekommt, tötet die böse Stiefmutter Schwesterchen und gibt ihre eigene Tochter als Königin aus. Doch nachts erscheint die echte Königin und umsorgt ihr Kind und das Reh. Eines Nachts spricht sie: "Was macht mein Kind, was macht mein Reh? Nun komm ich noch einmal und dann nimmermehr." Da erkennt der König den Betrug, bricht den bösen Zauber und Schwesterchen wird wieder lebendig. Aber das Märchen ist erst perfekt, als auch Brüderchen erlöst wird: Kaum wird die Stiefmutter bestraft, verwandelt sich das Brüderchen-Reh in einen Menschen zurück. Und so leben die Geschwister weiterhin glücklich zusammen.
Illustration: Petra Lefin
Illustration: Petra Lefin
"Brüderchen und Schwesterchen" erzählt uns von einer idealen Geschwisterliebe. Aber trotz aller Klischees der mütterlichen großen Schwester ruft es uns und den Kindern in Erinnerung: Es ist von Vorteil und wertvoll, jederzeit einen Gefährten zu haben: zum Spielen, zum Streiten, zum Erleben von Abenteuern oder wenn es darum geht, sich gegen die Eltern durchzusetzen. Dabei ist es egal, ob die Geschwister blutsverwandt sind oder als "Stiefgeschwister" eng miteinander aufwachsen. Diese einzigartige Beziehung sollten wir fördern: Nehmen wir jedes einzelne Geschwisterkind so, wie es ist, vergleichen wir Geschwister nicht miteinander und sehen wir sie trotzdem als Team.
Lese-Tipp: Gerade am Anfang ist eine Geschwisterbeziehung oft nicht nur rosig. Lesen Sie hier einen Beitrag von Jesper Juul über den Umgang mit dem sehr realen Gefühl des Verlusts, das viele Kinder bei der Geburt eines Geschwisters erleben.
Brüderchen und Schwesterchen fliehen vor ihrer bösen Stiefmutter in den Wald. Als Brüderchen aus einem verzauberten Brunnen trinkt, verwandelt er sich in ein Reh…
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