"Die große Wörterfabrik" zum Mitmachen
Wenn sich in der Bücherei die Türen des Kamishibai öffnen, klappt das auch mit ruhigen Geschichten – selbst wenn in der Stadtbibliothek reger Betrieb herrscht. Die Bilderbuchgeschichte "Die große Wörterfabrik" fesselt die kleinen und großen Zuschauer, wenn beim Erzählen Mitmach-Aktionen und bekannte Melodien eingebaut werden. Ein Praxisbeispiel für Erzählkunst in der Bücherei.
Zeit zum Vorlesen und Erzählen in einer Stadtbibliothek: Das Angebot ist offen für alle, die dazukommen möchten, an jedem Dienstag und immer zur gleichen Zeit: Manche sind fast jedes Mal dabei, andere eher zufällig, mal mit, mal ohne Eltern. Einige sind im Kita-Alter, andere schon 8 oder 9 Jahre alt. Fast immer sind Kinder dabei, die eine andere Muttersprache sprechen. Diesmal gehört auch ein Mädchen mit dem Down-Syndrom zur Gruppe. Sie alle treffen sich in einer kleinen Spielinsel mitten in der stets gut besuchten Kinderbücherei – und rundherum herrscht reger Betrieb mit jungen Familien und tobenden Geschwistern, schreienden Babys und Müttern, die sich hier regelmäßig verabreden. Kein ruhiger, abgeschirmter Ort, sondern eher: Geschichten für alle mitten im Leben.
Heute öffnet sich dort das Kamishibai für die Geschichte „ Die große Wörterfabrik“ von Agnès de Lestrade und Valeria Docoampo. Kann das funktionieren? Man muss sich einlassen auf die zunächst etwas dunkel wirkenden Bilder, genau hinschauen, genau hinhören, ein Gespür entwickeln für die Feinheiten von Sprache. Und für Gefühle. Wie ist das möglich in einer eher unruhigen Umgebung mit Kindern, die ganz verschiedene Vorerfahrungen mitbringen?
Genau diese Vielfalt erweist sich gleich zu Beginn als Chance. Zu Bild 3 heißt es: „Die Wörter, die aus den Maschinen herauskommen, sind ebenso unterschiedlich wie die Sprachen.“ Schnell wird deutlich, dass wir in der Vielfalt der Gruppe genau das erleben und teilen: unterschiedliche Sprachen, unterschiedliche Lieblingswörter, manchmal auch gar keine gesprochenen Wörter, dafür aber Farben, Bilder, ein Lächeln … Wörter in Gedanken und Gefühlen. Dazu kann jedes Kind etwas beitragen.
Etwa in der Mitte der Geschichte – bei Bild 7 – entdecken wir eine wichtige Schlüsselszene: „An manchen Tagen fliegen Wörter durch die Luft…“. Genau das geschieht heute auch in der Bibliothek. Dafür wird die Geschichte an dieser Stelle unterbrochen, um den Kindern Gelegenheit zu geben, sich beim Malen und Basteln auf eigene „Lieblingswörter“, auf Dinge, die vielleicht mit persönlichen Gefühlen verbunden sind, zu besinnen und so einen intensiveren Bezug zur Geschichte zu finden:
Aus Papier werden kleine Flugobjekte gefaltet. Es gibt dafür ein paar einfache Modelle, aber jedes Kind hat die Freiheit, es auch ganz anders zu machen – als Schmetterling, als Flugzeug, als Vogel … Beim Falten kann jedes Kind auch entscheiden, ob es das Wort, das damit durch die Luft fliegen kann, verdeckt oder offen aufschreiben oder malen möchte. Und wer nicht schreiben kann, hat hier Gelegenheit, den eigenen Vorstellungen in bunten Farben Ausdruck zu geben. Dazu ergeben sich kleine Gespräche. Und spürbar wird: Worte wohnen auch dort, wo sich etwas ohne Buchstaben in Farben und Formen mitteilt.
Zum Abschluss dieser spielerisch-kreativen Phase in der Mitte der Geschichte fliegen die Wörter tatsächlich durch die Luft – und manche Kinder erlauben, dass andere die kleinen Falter öffnen dürfen, um zu lesen oder zu deuten, welche Wörter sich darin verbergen.
Ein Wort fliegt schließlich zum Kamishibai-Rahmen – als Überleitung zum Fortgang der Geschichte mit Bild 8: Jetzt lernen wir Paul kennen. Auch Paul hat mit seinem Schmetterlingsnetz ein paar Wörter eingefangen, kleine Kostbarkeiten, die er einem besonderen Menschen schenken möchte …
Wieder entdecken die Kinder etwas, was ihnen vertraut ist: Zuneigung und Schüchternheit, Lautes und Leises, die Angst, nicht so gut, so stark, so reich zu sein wie andere – und die Freude, wenn am Ende etwas unverhofft Schönes geschieht.
Zum Abschluss der Kamishibai-Geschichte von der „großen Wörterfabrik“ nimmt ein gemeinsames Lied all diese Erfahrungen auf und lädt erneut zum Mitmachen ein. Denn die dafür verwendete Melodie geht sofort ins Ohr und ist international und mehrsprachig bekannt mit dem Text: „Bruder Jakob, Bruder Jakob, schläfst du noch?“
Passend zur Geschichte gibt es dazu nun allerdings einen neuen Text, den die Kinder mit ihren eigenen Wortideen immer wieder anders variieren können:
Viele Wörter, viele Wörter klingen schön, klingen schön.
Eins will ich dir singen, eins will ich dir singen:
Schmetterling, Schmetterling!
Dabei lässt sich statt „Schmetterling“ die jeweils letzte Zeile des Liedes bei jedem Durchgang auf Zuruf mit einem neuen Wort singen: Ein Kind schlägt seinen eigenen Namen als ein „schönes Wort“ vor, ein anderes Kind lässt seine Lieblingsfarbe besingen, mit dem es sein Blatt angemalt hat - „Feuerrot!“ Und das türkische Kind weiß ein Wort in seiner Muttersprache.
Es braucht viele Durchgänge des Liedes, bis alle „schön klingenden Wörter“ der Kinder besungen worden sind. Wie heißt doch gleich das letzte Wort in der Geschichte?
Nochmal!
In einem sonderbaren Land muss man Wörter kaufen und schlucken, bevor man sie aussprechen kann. Paul braucht dringend Wörter, weil er seiner Freundin sein Herz öffnen möchte ...
Mehr Info
Susanne Brandt, Kinder- und Praxisbuchautorin. Sie arbeitet als Lektorin bei der Büchereizentrale Schleswig-Holstein, schreibt Lieder und Lyrik und engagiert sich in der Kulturarbeit mit Kindern sowie in der Integrationsarbeit.
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